Analoge Botschaften unter der Haut

Tattoo-Ausstellung „Skin Stories“ fragt nach Kunstwert und Bedeutung der Hautbilder im digitalen Zeitalter

 

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Wim Delvoye „Donata“, 2005; Courtesy Arndt & Partner, Berlin, Burger Collection Hong Kong, © VG Bild-Kunst Bonn 2013, Foto: Bernd Borchardt

Das Wesen der digitalen Kommunikation ist Schnelligkeit und Flüchtigkeit. Twitter, SMS, WhatsApp, Facebook & Co leben von kurzen, aber auch rasch alternden Nachrichten. Analoge Botschaften gelten dagegen nach wie vor als dauerhaft. Tätowierungen sind dabei sicher die extremste Form gespeicherter Mitteilungen und Geschichten, die uns ihre Träger subkutan erzählen – und dies ein Leben lang. Im Rahmen des Großraumprojektes „net:works – kultur und öffentlichkeit zwischen analog und digital“ setzt die Ausstellung „Skin Stories. Tattoo & Kunst“ einen Kontrapunkt zum digitalen Fokus des Festivals.

Auch wenn den Tattoos Beständigkeit und Unveränderlichkeit eigen ist, sind sie – abhängig von ethnologischen, rituellen, soziologischen oder sozialen Zusammenhängen – immer auch einem kulturellen Bedeutungswandel unterworfen gewesen. So auch in unserem Kulturkreis. Galt ein Tattoo vor nicht allzu langer Zeit noch als Rebellion gegen den kleinbürgerlichen Konformismus, ist es heute ein weitgehend akzeptierter Teil der Popkultur seine Tattoos öffentlich zu zeigen. Längst haben Künstler und Grafikdesigner die menschliche Haut als Leinwand für Motive entdeckt, die ihre Träger zum Kunstwerk machen. „Skin Stories. Tattoo & Kunst“ widmet sich diesem Aspekt von Tattoos.

Die Diskussion um die Anerkennung von Tätowierungen als Kunst, zumindest im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs, wird kontrovers geführt. Dass nicht jede Tätowierung gleich Kunst ist, versteht sich beim Anblick so manches hochgekrempelten Ärmels von selbst. Der Schlüssel zur Kunst kann im Motiv selbst liegen oder aber in der konzeptionellen Verwendung.

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Design Paco Graves. Farbulös, Tattoostudio Nürnberg, http://infinity-ends-tattoos.tumblr.com/

Die logische Folge des einsetzenden Tattoo-Booms ist eine Ausdifferenzierung der Stilrichtungen, um den Motiven ein Maximum an Individualität und Persönlichkeit abzutrotzen. Paco Graves vom Nürnberger Studio Farbulös beispielsweise spielt in seinen Entwürfen mit der mittelalterlichen Tradition des Holzschnitts. Mit Realistic Trash Polka haben Volker Merschky und Simone Pfaff aus dem Würzburger Buena Vista Tattoo Studio dagegen einen recht freien Stil ins Leben gerufen und klugerweise gleich patentieren lassen. Wer einen Blick auf die internationale Szene herausragender Tattoo-Artists werfen möchte, sieht deren Arbeiten in einer Videoprojektion zur zeitgenössischen Tattoo-Kunst in Szene gesetzt.

Timm Ulrichs ließ sich bereits 1961 zum ersten lebenden Kunstwerk erklären und zehn Jahre später die eigene Signatur, gewissermaßen als Echtheitszertifikat, auf den linken Oberarm tätowieren. Dem folgten weitere Tätowier-Aktionen im Sinne jener von ihm geforderten Totalkunst, welche die Person des Künstlers und das Kunstwerk als eine Einheit postuliert. Zugleich stellte er auch Siebdrucke von Standard-Motiven aus Musterbüchern aus und holte Tattoo-Kitsch erfolgreich an Galeriewände.
Neben einer Grafikserie zu solch kitschig anmutenden Motiven sind zwei seiner bekannten Tattoo-Werke in der Ausstellung als Filme zu sehen: Die Worte „The End“ auf seinem rechten Augenlid versinnbildlichen gewissermaßen den Abspann zum ultimativ letzten Film. Mit dem Schriftzug „© by Timm Ulrichs“ stellt er seine Urheberschaft an sich selbst als lebendem Kunstwerk heraus.

Dass Tätowierungen trotz ihrer Allgegenwärtigkeit keineswegs an Schlagkraft eingebüßt haben, zeigt die Herangehensweise des belgischen Konzeptkünstlers Wim Delvoye. Seine großflächig tätowierten, präparierten Schweine sind eine gezielte Provokation und verdeutlichen eindringlich die unangenehme Vergleichbarkeit von Mensch und Tier. Die häufig künstlich mit Inhalt und Bedeutung aufgeladenen Tätowierungen werden banalisiert, ihnen wird der Anspruch auf Exklusivität genommen. Mit der Konservierung und Zurschaustellung nach dem Tode treibt Delvoye die funktionale Verwendung des Schweins als Bildträger auf die Spitze – ein radikaler Ansatz, den das Exponat „Donata“ in der Ausstellung vor Augen führt.

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Natascha Stellmach tätowiert „Trauer“, Berlin Festival 2014, Foto © Michael Lelliott

Genauso eindrücklich gelingt es der australischen Wahlberlinerin Natascha Stellmach, den Blick auf die gängige Tattoo-Praxis zu schärfen. Im Vordergrund ihrer aktuellen Position „The Letting Go“ steht die Aufladung mit Inhalt. In einer halböffentlichen Performance findet sie gemeinsam mit einem oder einer Freiwilligen einen Begriff für das, was der oder die Betroffene loslassen möchte. Indem sie das chiffrehafte Wort als Bloodline-Tattoo sticht – als tintenlose Tätowierung, die im Laufe der üblichen Wundheilung verblasst – setzt sie sich mit der Verletzbarkeit von Körper und Seele und deren Heilung auseinander.

Ganz andere Sinne weiß der Schweizer Mario Marchisella in seiner Audioinstallation „It was the best of times“ anzusprechen. In seinem Klangkunstwerk mischt sich der musikalisch gerahmte Text einer Geschichte von Charles Dickens mit dem Surren einer Tätowier-Maschine, die jenen Text in die Haut einschreibt. Allmählich verdichtet sich beim Zuhören die Ahnung, das innere Erleben des gerade Tätowierten nachzuempfinden.

Tätowierungen sind natürlich immer auch eine Form der Selbstdarstellung. Oft sind sie eine Pinnwand biografischer Einschnitte, sie stiften Identität und Gruppenzugehörigkeit. Künstler nutzen ihre visuelle Stärke und provokante Grundhaltung als Ausdrucksmedium. So vielfältig und individuell wie die Bandbreite an modischen Motiven und Retrotrends ist, sind auch die Aussagen zu den Geschichten hinter den Hautbildern. In einem für „Skin Stories“ in Auftrag gegebenen Film der MedienPRAXIS e.V. kommen „beide Seiten der Nadel“ ausführlich zu Wort.

Die Ausstellung „Skin Stories. Tattoo & Kunst“ ist vom 10.10. bis 8.11. in der kunst galerie fürth, Königsplatz 1, 90762 Fürth zu sehen. Begleitend zur Ausstellung gibt es ein reichhaltiges Rahmenprogramm.
Zur Veranstaltung

Rainer Hertwig am 17. August 2015